Angry Again

Gestaltung von Spielercharakteren

Manchmal sitzt man da, als Spielleiter, und verflucht sie, diese Bande von Abenteurern, die im Grunde so popelig sind, daß der mickrigste NPC ihnen an Stil und Ausstrahlung weit überlegen ist. Aber man muß ja nett sein, darf nicht meckern (schließlich sind SIE in der Überzahl). Eigene Vorschläge verhallen ungehört.
Getreu dem Motto: wer sein Gegenüber erkennt, weiß es besser zu nehmen, folgt eine Auflistung der gefürchtetsten, leider beliebtesten Versionen von Spielercharakteren. Die hier aufgeführten verstehen sich selbstverständlich als Extreme, aber ein klein wenig von ihnen steckt vielleicht in jedem.

1. Der Stereotyp

Die treuen Fans der klassischen Geschichten beherrschen diesen Typus perfekt. Krieger - mutig, stark und 'nen bißchen unsensibel (um nicht zu sagen blöde), er ist groß, mindestens zwei Meter, da er allein durch sein Auftreten alle in Heidenehrfurcht versetzen muß, ein Waffenarsenal am Gürtel, daß jeden Waffenfeldwebel einer durchschnittlichen Armee in helle Verzückung versetzen würde (eine Buchhaltungssystem, das verzeichnet, wo die 24 Dolche und 12 Schwerter nun genau am Körper verschnürt sind, fehlt leider meistens). Die Zwerge sind samt und sonders muskulöse Meisterschmiede mit Wahnsinnsvollbart, unglaublich talentiert im Steine lutschen, vernarrt in Edelsteine und Gold, von einer Sammelleidenschaft wie ein Trading Card Spieler und stur wie die Felsen zwischen denen er aufgewachsen ist. Er trägt Kettenhemden und kämpft mit einer Axt; einer großen Axt; einer schweren Axt; seiner persönlichen Zwergen-ich-tret-sie-alle-in-den-Arsch-Streitaxt. Dann die Elfen, immer so schön, daß Pierce Brosnan wie ein pickeliges Jüngelchen daneben aussieht, edel bis ins Mark, von Gold und Macht, nein, da wollen sie gar nichts wissen, hauptsache die Welt ist schön, die Wälder noch Wälder, die Hirsche noch jagdbar, der Langbogen magisch und der nächste Pfeil ein garantierter Kopftreffer. So gleiten sie lautlos durch die Natur, in bester Waldläufer - Marnier ohne ein Blatt zu bewegen oder ein Ästlein zu knicken. Die Magier, tja, stets voller Forscherdrang, immer zappelig wartend, wann denn die nächste einigermaßen passende Gelegenheit kommt einen Spruch abzulassen, mit bestickter Robe und Magierstab. Tierisch geil auf Spruchrollen, Spruchbücher, Sprüchesammlungen, Spruchklopapier, Spruchspeisekarten. Und so weiter, und so weiter.
Eigentlich ist dieser Typus Spielercharaktere am zuverlässigsten, man weiß immer, wie sie reagieren.

2. Das Plagiat

Diese Art von Spielercharakter verschafft sowohl dem Leitenden als auch den Mitspielern ein permanentes deja vú - Erlebnis. Da hat der Spieler mal einen Roman gelesen, der ihn echt begeistert hat, da gibt es dann einen Protagonisten, der es echt in sich hatte, was liegt da näher, als seinen Charakter exakt der Romanvorlage nachzuempfinden? So kommt es halt zu den alten Magiern mit Vollbart und einer tierischen Vorliebe für weiß, zu Albinoabenteurern mit komischem Runenschwert und pechschwarzer Rüstung, zu muskelbepackten MG Schwingern mit roten Stirntüchern, zu Elfendeckern mit schlohweißem Haar, zu schwarzberobten 2, 15 m Druiden, die 700 Jahre alt sind etc. Problem hierbei: erstens langweilig, weil geklaut. Zweitens: da Romanfiguren in die Welt des Buches eingebettet sind, erweisen sie sich als schlecht übertragbar in Spielewelten. Beispiel: ein Bekannter war tierisch begeistert von einem edlen Barbaren, dessen herausstechendes Merkmal sein magisch verringertes Körpergewicht war. Er wollte ein exaktes Plagiat spielen, welches allerdings durch die erstbeste Eisdecke brach und ersoff, weil es in Midgard™ nun mal keine Helden mit Dauerleichtgewicht 24 kg geben kann. Daher stellt diese Gattung meistens nur ein Kurzproblem dar: sie krepieren an einer Stelle, wo der Roman sie im Stich läßt und sie nach eigenen Ideen Situationen angehen müssen: und tschüs.

3. Null, Nichts, Nothing (Wie heißt dein Charakter noch mal?)

"Don't let's do anything. It's safer."
Samuel Beckett, Waiting for Godot

Dieser Charakter entstand in exakt 27 Minuten. Solange dauerte das Würfeln bzw. Kaufen von Attributen. Anschließend wird gespielt. Die Spieler dieser Figuren hoffen, daß sich während des Spiels irgend etwas ergibt, daß ihnen Farbe verleiht. Bis dahin kriechen sie amöbengleich ohne Form durch die Spielwelt, haben keine Motivation, keinen Antriebsgrund, sammeln ansonsten Geld und Erfahrungspunkte. Im schlimmsten Fall kann man noch nicht einmal erkennen, um welche Charakterklasse es sich handelt, ob Magier oder Krieger, ob Schamane oder Solo, es wird selten gezaubert, nur ab und zu gekämpft. Die Spieler ignorieren Gestaltungsangebote von Regelwerken wie Vorlieben, Abneigungen, Hintergründe etc. völlig. Sie nehmen die niedrigste Belohnung in Kauf. Das Witzigste ist jedoch: durch das Nichtauffallen leben sie am längsten, häufen mit der Beharrlichkeit einer Ameise die kleinen Krumen an Schätzen und EP's an, bis sie die mächtigste Spielfigur der Kampagne ist. Ein Held, den niemand kennt, der erst nach zwei Spielesitzungen einen Namen erhält. Das einzig positive an ihm ist: der Charakter hat kaum Makel, keine Züge, an den man ihn packen kann, keine Negativa, allenfalls ein wenig Gier. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Un-Mensch.

4. Der Überkonzeptuierte

Dieser Zeitgenosse hat von Anfang an einen Wahnsinnshintergrund, detailliert ausgearbeitet und geplant. Da hagelt es Vorgeschichten wie Romane aus den Federn der großen Meister. Mord, Verrat, Liebe, jeder Inhalt der klassischen Tragödie wird Gegenstand des Lebens des Charakters. Ist es gar ein Elf oder Zwerg, wird die Sache doppelt schlimm, da wesentlich mehr Lebenszeit zur Verfügung steht, um sie mit Geschehnissen zu überhäufen. Jeder Verwandte, Freund, Bekannte des Charakters ist mit Namen, Werten und gar Zeichnung verewigt und berücksichtigt. Und wehe dem Spielleiter, der das nicht zu schätzen weiß oder, oh Frevel, es nicht fortwährend berücksichtigt. Peinlich ist: der Lebenslauf, einer überbordenden Phantasie entsprungen, macht es dem Spielleiter sehr schwierig, einen halbwegs angemessenen Kampagnenhintergrund zu gestalten. Das schafft nicht gerade Flexibilität, jedes Zuwiderhandeln des Spielleiters wird zum Affront gegen die Herzblut verschlingende Spielfigur. Noch kritischer wird es, wenn diese Charaktere sterben, das kommt einem Mord an dem Spieler gleich. Sinkt eine Figur, deren Dokumente und Charakterzubehör in der Dicke an die Prozeßakte von O.J.™ Simpson heranreicht, durch einen Schwertstich nieder, hat man einen Mitspieler weniger. Der ist ebenfalls tödlich getroffen. Böse Falle.

5. Ein Konzept in allen Systemen

Das Konzept dieses Charakters ist gut: offen genug, um ihn nicht in jeder Hinsicht festzulegen, definiert genug, um ihm eine Menge Farbe zu verleihen. Das Konzept muß auch gut sein, es wurde schließlich oft genug getestet - überall und immer wieder. Egal ob DSA™, AD&D™, Earthdawn™ oder RuneQuest™, da wirkt es, als wanderte eine Spielfigur durch alle Systeme. Als ob die Spieler eine Universelle-Master-Konvertierungstabelle in einer schwer bewachten Schublade hätten. Einmal generiert, in allen Welten verwendbar. So kommt es zu diesen Figuren, die sich ein Konzept teilen: einer spielt nur den Barden, nur den Antihelden, nur den Clown. Es macht nichts wenn einer stirbt, der nächste hat wieder rote Haare, kommt ebenfalls aus den Nordländern und trinkt natürlich wieder alle unter den Tisch und haßt selbstverständlich auch Orks, ob er jetzt Druide, Waldläufer oder Priester ist. Renitent wie eine Zecke ist das Konzept, schlimmstenfalls haben sogar alle Manifestationen den gleichen Namen.
Wenn es einen Vorteil gibt, dann den, daß diese Gattung für faule Spieler super geeignet ist, der braucht sich nur neue Werte zu merken, ansonsten kann er immer mit den gleichen Gefühlen ins Rollenspiel gehen. Der Nachteil: Dadurch wirken auch alle Welten gleich, da Besonderheiten ignoriert werden. Extreme Hintergründe wie z. B. Dark Sun™ lechzen aber geradezu nach Extrema.

Die Lösung?

Obwohl noch einige andere Sparten zu nennen wären, soll diese Auswahl erst einmal reichen. Sie zeigen nämlich schon sehr deutlich, was das Grundproblem vieler Spielercharaktere ist: zu wenig Menschlichkeit (gilt in diesem Fall auch für andere Rassen). Eine Spielfigur braucht Vorlieben, Abneigungen, Hobbys, kleine Defekte, einen Feind, ein paar gute Freunde außer denen am Spieltisch, eine Familie, eine Abstammung, kurzum: einen privaten Hintergrund, eine Intimsphäre. Es ist doch wesentlich spannender, seinen Figuren eine einigermaßen klare Motivation mit auf den Weg zu gehen; vielen ist nämlich noch nicht einmal klar, warum ihr Spielercharakter überhaupt auf Abenteuer ausziehen sollten (Eltern von Orks erschlagen und deswegen von Rache getrieben durch die Lande streifen ist auf Dauer 'nen bißchen abgeschmackt).
Um dem abzuhelfen bekommt man z. B. in Cyberpunk 2.0.2.0.™ einen Lebenslauf "verordnet". Obwohl dies auf den ersten Blick als zu einengend erscheint, entpuppt es sich als wahren Segen für den Rollenspieler, da man so die Gelegenheit bekommt, eine Rolle zu spielen und keine leere Silhouette. In anderen Rollenspielen wie Earthdawn™, Shadowrun™, Werewolf™, Vampire™ etc. werden Fragen aufgelistet, die der Spieler beantworten sollte. Neben den oben genannten wird z. B. nach Aussehen, körperlichen Merkmalen, beruflichem Werdegang, Charakterstärken, Schwächen, moralischen Vorstellungen, Kleidungsstil etc. gefragt. Diese Dinge zu definieren heißt der Figur Farbe zu verleihen. Versucht es, laßt euch auf jedes Rollenspiel ein und denkt euch in die entsprechende Welt, schließlich ist der Unterschied zwischen AD&D™ und Star Wars™ nicht nur die Anzahl der verwendeten Würfel, sondern der Stil. Die Belohnung ist: mehr Spaß.
Auf einer einsamen Insel gestrandet zu sein ist schon übel genug, aber mit einem Charakter festzusitzen, der Kettenraucher ist und nur noch zwei Marlboros™ in der Brusttasche hat, macht die Angelegenheit erst so richtig ungemütlich.

"It's dark there, but full of diamonds."
Arthur Miller, Death of a Salesman